Mit dem DRK atemlos durch die Nacht

Arbeiten, während andere Menschen Party machen. Für die ehrenamtlichen Helfer beim Deutschen Roten Kreuz ist das normal. Wie es sich anfühlt, eine Nacht lang Ersthelfer zu sein, habe ich bei der Kamp-Lintforter Beachparty 2017 miterleben dürfen.

Hinter der Bühne haben wir uns postiert.

Mein Einsatz beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Kamp-Lintfort beginnt wie er endet: mit warten. Um 15 Uhr am Samstagmittag sammeln sich erst noch die Truppen. Draußen scheint die Sonne. Die Hitze drückt ein wenig und lässt einen Schweißfilm auf der Haut zurück. Jetzt im Garten liegen und der Fußball-Bundesliga zuhören, denke ich, während es um mich herum voller wird. Rund 30 Helfer werden für die Beachparty benötigt, zu der in diesem Jahr etwa 6.000 Gäste erwartet werden. So viele Ehrenamtler hat das DRK in Kamp-Lintfort nicht, weshalb zusätzlich Ersthelfer aus Moers und Krefeld dazu kommen. Die Rotkreuz-Familie ist groß: Die meisten hier kennen sich und grüßen sich wie alte Freunde. Weil man grundsätzlich „Du“ zueinander sagt, entsteht gleich eine vertrauliche Atmosphäre.

RTW, KTW und Aküfi

Small-Talk bei Kaffee und Brötchen. Nur Sascha Weber, der heute als Einsatzleiter die Verantwortung trägt, wuselt noch herum. Hier ein prüfender Blick auf Fahrzeuge und Ausrüstung, da eine kurze Absprache mit seinen Helfern. Zwischen Dienstrang und Funktion wird bei einem Einsatz unterschieden. So schlüpfen die ehrenamtlichen Rettungskräfte in jeweils die Rolle, die beim aktuellen Dienst benötigt wird. Mehrere Krankenwagen müssen bestückt werden. Zweier-Teams werden den ganzen Abend über auf dem Gelände patrouillieren. „Präsenz zeigen“, wie es heißt. Denn die gibt den Besuchern Sicherheit.

Einsatzleiter Sascha Weber erklärt, worauf es heute ankommt.

In einer Mischung aus großer Herzlichkeit und militärischem Ton teilt Sascha Weber die Teams auf. Ich werde zusammen mit dem örtlichen DRK-Vorsitzenden Rolf Recnik den Abend über die Arbeit des DRK begleiten. Zuschauen ja, anfassen nein: Weil ich selber im Ernstfall nicht helfen kann, nehme ich die Rolle des Beobachters ein. Die Aufteilung steht also. Weil keine Fragen offen bleiben, setzt sich die Truppe mit RTW, KTW und ELW in Bewegung. Aküfi? Ja, einen Abkürzungsfimmel gibt es im Rettungsdienst definitiv. Statt die Wörter Rettungswagen, Krankentransportwagen und Einsatzleitwagen nutzen die Retter lieber schlanke Abkürzungen. Das macht es Laien wie mir nicht ganz leicht durchzublicken.

Abfahrbereit: In diesen Rucksäcken steckt alles, was man für die medizinische Erstversorgung braucht.

„Bei dem Wetter haben wir sicher wieder etliche AVTs“, meint ein erfahrener Helfer. Als ich um Übersetzung der Abkürzung bitte, bricht allgemeines Gelächter los. Denn offiziell heißt es natürlich nicht „Arsch voll toll“, wenn man über diejenigen spricht, die aufgrund übermäßigen Alkoholkonsums im Laufe der Nacht zu uns kommen. Davon haben wir später tatsächlich reichlich. Doch um 16 Uhr, als der Einlass zur Beachparty startet, geht alles noch seinen ruhigen Gang. Die Krankenwagen haben Position bezogen und stehen abfahrbereit an verschiedenen Enden des Freibadgeländes. Der San-Raum, der schon vor Jahrzehnten im noch alten Pappelsee-Freibad eingerichtet wurde, ist gelüftet und steht nun bereit für medizinische Notfälle aller Art. Jetzt heißt es warten hinter der Bühne im Backstage-Bereich.

Im Rampenlicht hat sich mittlerweile der erste Schlagersänger das Mikrofon geschnappt. Hölle, Hölle, Hölle. Um 17 Uhr springen erst wenige Fans vor der Bühne herum. Die meisten stillen ihren Durst mit Bier aus Pappbechern. Ich frage mich, ob meine Kollegen an diesem Tag genauso denken wie ich: Einerseits wünsche ich mir einen ruhigen Verlauf. Keinen Einsatz, also auch keine Verletzungen und Blessuren. Das ist gut für Gäste und Veranstaltung. Andererseits warten wir hier, weil wir helfen und gebraucht werden wollen. Kein einfacher Spagat.

Ende eines kinderfreien Abends

Der erste Notfall trifft uns um kurz nach neun wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich merke, wie es vorne an der Bühne plötzlich hektisch wird. Menschen gestikulieren, die Ordner reagieren prompt und winken uns zu sich. Ein junges Mädchen greift sich an den Kopf. Blut tropft auf ihr weißes Top. Sie verzieht das Gesicht vor Schmerz und lässt sich, begleitet von einer Freundin, in den Sanitätsraum führen. Was ist geschehen? Ein Unbekannter hat ein fast volles 5-Liter-Bierfass aus Aluminium in die Menge geworfen – und die Frau am Kopf getroffen. Das Ende eines kinderfreien Abends verbringt die junge Mutter in der Notaufnahme des benachbarten St. Bernhardt-Hospitals, wo ihre Kopfwunde genäht werden muss. Während Rettungsassistent Heiko die Wunde versorgt und sein Kollege den Krankenwagen bereitmacht, hat die Security den Fasswerfer ausfindig gemacht. Die Kante von einem Mann wehrt sich so heftig, dass es sechs Leute braucht, um ihn bis zum Eintreffen der Polizei in Schach zu halten. Ein Ordner verdreht sich dabei derart das Knie, dass wir auch hier helfen müssen – mit Kühlpack und ein paar gezielten Handgriffen.

Ohne Blaulicht fahren wir danach ins Krankenhaus. Erstmals betrete ich die Notfallambulanz von hinten. Rückwärts fahren wir in die Garage und bringen die junge Verletzte sitzend auf ihrer Trage hinein. Vorschrift, damit sie nicht doch noch einen Schwächeanfall bekommt und womöglich stürzt. Mittlerweile zeigt die Uhr an der Krankenhauswand kurz vor 21 Uhr. In den Behandlungszimmern der Ambulanz warten bereits Patienten auf den Arzt. Nach einer Menge Schriftkram, die Heiko erledigt, und einer mündlichen Übergabe an den diensthabenden Notfallmediziner machen wir uns wieder auf die Socken.

Beruf und Berufung

Die Trage und alle Gegenstände, die der Patient berührt hat, werden vor unserer Abfahrt noch desinfiziert. Zeit, um über den Job ins Gespräch zu kommen. Heute Abend fährt Heiko ehrenamtlich den Wagen, doch verdient er auch sonst sein Geld als Rettungsassistent. Als Spätberufener sozusagen, denn eigentlich hat er Erzieher gelernt. Das schien ihm aber auf Dauer nicht spannend genug. Jetzt hat er seine Berufung gefunden. Anders kann man kaum erklären, warum Heiko so wie seine fast 30 Kollegen an diesem Abend zusätzlich zum stressigen Beruf in ihrer Freizeit weitere Stunden unentgeltlich kloppen.

Nicht jeder lässt sich gerne helfen.

Wenn es wenigstens Respekt und Anerkennung gäbe. Aber selbst auf die warten viele Rettungskräfte oft vergeblich. Im Gegenteil, diese Erfahrung hat Heiko bei seiner täglichen Arbeit gemacht, reagierten manche Menschen aggressiv auf seine Bemühungen, Leben und Gesundheit anderer zu bewahren. Pöbeleien seien dagegen an der Tagesordnung. Nicht jeder lässt sich gerne helfen.

Bitte zurücktreten!

Auf einem meiner Rundgänge mit Rolf ruft uns die Security zum Toilettenwagen. Unter dem großen abgekoppelten Anhänger liegt ein junger Mann auf dem Rücken. Er hat die Unterarme über den Augen verschränkt und scheint sich ein Nickerchen gönnen zu wollen. Seine Freundin wippt davor etwas nervös von einem Fuß auf den anderen. Ihr ist die Situation unangenehm. Als Rolf sich hinunter beugt, um nach dem Befinden zu fragen, schlägt der sichtlich Angetrunkene um sich. Für uns das Signal zurückzutreten. Zwei Ordner ziehen den Mann unter dem Wagen hervor und werden selber Opfer seines aggressiven Verhaltens. Im Takt der Musik, die von der Bühne herüberweht, wird der Gast vom Freibadgelände geführt. Auch eine Art Arbeitsteilung.

Überhaupt zeigt sich im Laufe des Abends, wie wichtig eine gute Vorbereitung ist

Die Beachparty steuert mittlerweile ihrem Höhepunkt zu. Um 23 Uhr wartet Top-Act Mickie Krause darauf, von den Fans gefeiert zu werden. Für manchen Zuschauer scheint das zu viel der Aufregung zu sein. Ein Mann klagt über Schmerzen im Brustkorb und Lähmungserscheinungen im linken Arm. Für die erfahrenen Ersthelfer vom DRK ein Alarmsignal. Sie kümmern sich schleunigst um den Gast und rufen eine Notärztin hinzu. Wie richtig diese Reaktion war, zeigt sich, als die Medizinerin den Notfallpatienten prompt mit Blaulicht und Sirene in Richtung Krankenhaus schickt.

Dank moderner Technik haben wir mitten in der Nacht noch ausreichend Licht, um hinter der Bühne alles sehen zu können.

Überhaupt zeigt sich im Laufe des Abends, wie wichtig eine gute Vorbereitung ist. Schon Wochen vorher hat Einsatzleiter Sascha geplant, wie viele Kräfte und Fahrzeuge gebraucht werden. Den Profis hilft dabei die Formel eines Diplom-Ingenieurs, der anhand verschiedener Parameter einen groben Richtwert errechnet hat. Das so genannte Maurer-Schema fragt unter anderem nach Veranstaltungsgröße und Risikobewertung. Dass die Zahl der Helfer bei dem neuen Besucherrekord von 6.000 Menschen im Vergleich zum Vorjahr noch mal erhöht wurde, war auch der Wunsch der beiden Kreisbereitschaftsleiter (KBL) Rainer Sitter und Oliver Rühl. Sie verantworten – ebenfalls ehrenamtlich – die Einsätze des DRK im Kreis Wesel. Obwohl beide an diesem Tag schon Stunden lang auf den Beinen waren, harren sie bis zum Schluss in Kamp-Lintfort aus. Auch wenn sie im militärischen Sinne heute Abend die ranghöchsten Vertreter sind, verantwortet Einsatzleiter Sascha jede Entscheidung. Die Erfahrung der beiden KBL gibt den anderen zusätzlich einen gewissen Halt und im Notfall ergänzen sie auch ganz praktisch das Team, von dem ein Teil gegen Mitternacht wieder im Einsatz ist.

In einem liebevollen Ton spricht ein anderer Helfer, selbst Familienvater, auf den Jungen ein.

Eine ältere Frau hat in Anwesenheit von Sohn, Schwiegertochter und Enkelkind einen diabetischen Schock erlitten. Kein schöner Anblick für den etwa zehnjährigen Jungen. Ein Kollege zieht ihn deshalb raus aus der Situation und setzt sich gemeinsam mit dem Kind zu uns. Schnell hat jemand seine dicke Jacke über den zitternden kleinen Kerl geworfen. In einem liebevollen Ton spricht ein anderer Helfer, selbst Familienvater, auf den Jungen ein. Er zeigt Fotos seiner eigenen Kinder und mit jedem Wort entspannt sich der Kleine mehr. Als sein Vater ihn schließlich dankbar abholt, kann der Junge schon wieder lächeln. Denn der Oma geht es mittlerweile wieder besser. Dennoch musste auch sie sicherheitshalber zum Krankenhaus gebracht werden. Diesmal ohne Tatütata.

„Du bist ja blöd, dass du das umsonst machst.“

Von all dem merken die Besucher der Beachparty an diesem Abend nichts. Und so soll es ja auch sein. Darüber, so denke ich, vergessen wir aber, wie wertvoll die Arbeit der drei Dutzend ehrenamtlichen Helfer heute tatsächlich war. Was, wenn all diese Frauen und Männer irgendwann aufhören, ihre Freizeit für andere zu opfern? Weil sie es satthaben, dafür auch noch angepöbelt und angegriffen zu werden. Weil sie es nicht mehr hören können, dass andere sie wegen ihrer vermeintlichen Gutmütigkeit verlachen. „Du bist ja blöd, dass du das umsonst machst“, haben sie hier alle schon gehört von Freunden und Verwandten, die nicht gerne etwas für andere tun. Ob sich diese Menschen einmal überlegt haben, dass viele Veranstaltungen abgesagt werden müssten, wenn es die ehrenamtlichen Helfer im Rettungsdienst nicht gäbe?

Wie Eltern, die über ihre schlafenden Kinder wachen, lassen wir die Blicke schweifen.

„Du musst schon positiv bekloppt sein. Sonst machst du das hier nicht“, erzählt mir Uta Riedel als wir später wieder hinter der Bühne stehen. Wie Eltern, die über ihre schlafenden Kinder wachen, lassen wir die Blicke schweifen. Schon mittags hat Uta ihre Schicht begonnen mit Kaffeekochen und Brötchen schmieren. Wie die anderen geht sie erst, wenn der letzte Besucher das Gelände verlassen hat. Dann fährt sie die so genannten Einsatzmittel zurück in die Zentrale. Richtig aufgeräumt wird morgen. Am Sonntag. Dennoch kommt der letzte Helfer erst gegen vier Uhr morgens ins Bett. „Und obwohl das alles so stressig ist, kannst du davon ausgehen, dass morgen schon wieder gefragt wird, wann wir wohl den nächsten Einsatz haben“, lacht Uta und wartet darauf, dass sie gebraucht wird.

 

Dies ist eine Reportage über meinen Einsatz mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) bei der Beachparty 2017 in Kamp-Lintfort. Der Text ist deshalb subjektiv, beschreibt ausschließlich meine Beobachtungen und verzichtet – getreu den Regeln des Genres– auf Bewertungen und Kommentare. Mindestens zwei Mal im Jahr versuche ich, in meinem Wahlkreis einen Tag lang zu malochen. Das habe ich unter anderem schon auf dem Bau,  beim Spargelstechen, in der Großbäckerei Büsch, bei Amazon und McDonald’s getan sowie bei der Polizei und in einem Seniorenheim.

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